Mehr als 4000 Afroamerikaner wurden zwischen 1877 und 1950 in den USA gelyncht, schätzt die Equal Justice Initiative. Ermordet von einem weißen Mob, der sich nicht um Recht und Gerichtsbarkeit scherte. Afroamerikaner*innen wurden aus Arrestzellen oder aus ihren Häusern gezerrt, gefoltert und ermordet – alles unter den Augen und Jubelrufen zahlreicher weißer Zuschauer. Die ließen sich anschließend sogar mit den Leichen ablichten, fertigten Postkarten von den Fotos an oder verstümmelten die Leichen, um ein Körperteil als persönliches Souvenir mit nach Hause zu nehmen.
Das Ausmaß der Lynchjustiz, die im ausgehenden 19. Jahrhundert und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA betrieben und geduldet wurde, ist unvorstellbar. Ihre Narben – das ungestrafte Morden an Afroamerikaner*innen – sind bis heute in der US-Gesellschaft präsent.
Wie lange das Morden seinen Lauf nahm, ist vielen gar nicht bewusst.
Als 1892 Lynchmorde an Thomas Moss, Calvin McDowell, Henry Stewart begangen wurden, nach denen Bürgerrechtlerin Ida B. Wells ihren journalistischen Feldzug gegen die Lynchjustiz begann, war das Morden im Süden der USA bereits Alltag. Schon kurz nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 wurden Afroamerikaner ermordet weil man ihnen vorwarf, einen Aufstand gegen Weiße zu planen oder weil sie von ihrem neu errungenen Wahlrecht Gebrauch machen wollten. Bald gesellt sich zu den Vorwürfen, die für Afroamerikaner tödlich enden, die Anklage sie hätten eine weiße Frau belästigt oder vergewaltigt.
Welch katastrophale Ausmaße dieser Vorwurf annehmen konnte, zeigte sich 1921: Eine Zeitung verbreitet in Tulsa, im US-Bundesstaat Oklahoma, das Gerücht, ein schwarzer Teenager habe in einem Aufzug ein weißes Mädchen belästigt. Von der Berichterstattung aufgepeitscht, formiert sich ein weißer Mob vor dem Gerichtsgebäude. Mitglieder der schwarzen Gemeinde stellen sich dem Mob entgegen, um einen Fall von Lynchjustiz zu verhindern. Inmitten der beiden aufgebrachten Gruppen löst sich ein Schuss – im Anschluss zieht der weiße Mob in Tulsas Schwarzenviertel Greenwood, ermordet in einer Nacht mehr als 300 Bewohner und brennt 35 Häuserblocks nieder. Am Morgen des 1. Juni 1921 liegt die „Black Wall Street“, wie das prosperierende Schwarzenviertel genannt wurde, in Trümmern. (Ich habe über diese Nacht des Lynchmobs für SPIEGEL Geschichte geschrieben.)
Fotos: Brennende Kirche in Greenwood, Library of Congress Prints and Photographs Division, digital ID anrc 14745, Greenwood am Morgen nach dem Lynchmob, Library of Congress Prints and Photographs Division, digital ID anrc 14738
Das ungestrafte Morden an Schwarzen fand sogar noch im Amerika der Fünfziger Jahre statt. Das Amerika, das Europa zehn Jahre zuvor von der Naziherrschaft befreit hatte, weil die Nazis Juden als Menschen niederer Klasse verachteten und ermordeten.
Indes existierte das Denken, einer anderen Bevölkerungsgruppe überlegen zu sein, auch in den USA ungestört und ungestraft. Und so war es ein altbekannter Vorwurf, der dem 14-jährigen Emmett Till im Sommer 1955 zum Verhängnis wurde: Eine weiße Frau behauptete, er habe ihr hinterhergepfiffen. Eine Gruppe weißer Männer zerrte ihn daraufhin aus dem Haus seines Onkels, folterte und ermordete ihn, warf ihn in einen Fluß. Emmett Tills Leiche wurde erst 3 Tage später gefunden, fürchterlich entstellt. Trotzdem bestand seine Mutter darauf, ihn im offenen Sarg aufzubahren.
Das Foto seiner Leiche rüttelte Amerika auf. Doch seine Mörder blieben straflos. Der grausame Mord und das Unrecht wühlte die schwarze Gemeinde auf: Wann war es endlich genug? Wenige Monate später weigerte sich Rosa Parks, ihren Sitzplatz im Bus freizumachen. Der folgende Busboykott in Montgomery, Alabama, wurde zum Katalysator für die schwarze Bürgerrechtsbewegung, angeführt vom schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King. Über Coretta Scott King, die mit Martin Luther King gemeinsam und noch lange nach seiner Ermordung – für die Rechte der Schwarzen kämpfte, findet ihr bei mir auch eine Podcastfolge.
Jüngste Vorfälle wie der Mord an George Floyd und Proteste der Black Lives Matter Bewegung zeigen, dass die USA ihren Umgang mit Schwarzen und ihren strukturellen Rassismus gegenüber Afroamerikaner*innen bis heute nicht aufgearbeitet haben. 2020 legte die kalifornische Senatorin Kamala Harris einen Gesetzesentwurf vor, der Lynchmorde zu einem federal crime (die US-Form des Kapitalverbrechens) gemacht hätte, doch das Gesetz wurde von einem republikanischen Senator blockiert. Erst 2022 verabschiedete der US-Senat den Emmett Till Antilynching Act, der Lynchmorde als Hass-Verbrechen klassifiziert, die mit bis zu 30 Jahren Haft bestraft werden können.
Seit 2018 erinnert das Lynching-Memorial in Alabama an die Menschen, die dem unfassbaren Hass und der Lynchjustiz zum Opfer fielen.
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