13.06.2020 • Frauenrechte
120 Jahre Kampf für Gleichstellung in Deutschland
„Es steht völlig außer Zweifel, dass die Differenzierung der Entlohnung von Frau und Mann grundgesetzwidrig ist, verfassungswidrig!“
Die Kassler Anwältin redete beim Thema Gleichberechtigung nicht um den heißen Brei herum – weder, als sie 1948 im Parlamentarischen Rat leidenschaftlich für die Gleichstellung von Mann und Frau im Grundgesetz stritt, noch 1980, als sie mit über 80 Jahren Stellung zum längst überfälligen Gesetz bezog, das Frauen und Männern Lohngleichheit garantierte.
Die Gleichberechtigung war ihr Lebensthema. Nachdem Frauen 1919 das Wahlrecht errungen hatten, erlebte Selbert wie die junge Weimarer Republik erste vorsichtige Schritte in Richtung Gleichberechtigung machte. Ab 1933 erlebte sie am eigenen Leib, wie die Nazis Frauen von manchen Berufen – etwa im Rechtswesen – ausschließen wollten. Selbert hatte großes Glück, als Anwältin gerade noch rechtzeitig durch das Netz der Nazis zu schlüpfen. Mehr über ihre frühen Jahre und darüber, wie sie nach dem Ende des 2. Weltkriegs an der Formulierung des Grundgesetzes mitarbeitete, erzähle ich in der ersten Folge von HerStory.
Das Porträt der Frau, der wir den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in Artikel 3 des Grundgesetzes verdanken, finde ich einen schönen Auftakt für den Podcast.
Deshalb dachte ich mir, zum Auftakt blicke ich im Blog mal auf die wichtigsten Fortschritte, die wir beim Thema Frauenrechte in Deutschland in den vergangenen 120 Jahren gemacht haben.
- 1900: Das Großherzogtum Baden lässt Frauen zum Studium zu. Fortan können Frauen an den Universitäten Freiburg und Heidelberg studieren. In allen anderen Lehranstalten sind sie weiter nur als Gasthörerinnen geduldet. Der Zugang zu Professuren oder als lehrende Wissenschaftlerinnen an Universitäten bleibt ihnen weiterhin verwehrt.
- 1911: Am 19. März 1911 findet der erste Weltfrauentag in Deutschland statt. Mehr als 45.000 Menschen nehmen in Berlin teil und fordern das Wahlrecht für Frauen. Seit 1914 wird der Weltfrauentag am 8. März gefeiert.
- 1918: Frauen gewinnen in einer Abstimmung das aktive und passive Wahlrecht und dürfen ab 1918 wählen und selbst gewählt werden. Bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung gehen 37 der 421 Mandate an Frauen. So manche mühsam erlangten Fortschritte bei der Gleichberechtigung werden von den Nationalsozialisten wieder eingestampft; so verdrängen sie Frauen etwa aus Rechtsberufen und werten vor allem das Bild der „deutschen Mutter“ auf.
- 1949: Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes werden Männer und Frauen in Deutschland offiziell auf staatlicher Ebene gleichgestellt. Mit Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ bekennt sich der deutsche Staat in seiner Verfassung dazu, beiden Geschlechtern die gleichen Rechte und Freiheiten einzuräumen. Der Satz geht in dieser Form auf Elisabeth Selbert zurück. Sie war eine von nur vier Frauen unter 65 Delegierten im Parlamentarischen Rat. Elisabeth Selbert und ihre Kolleginnen Frida Nadig, Helene Wessel und Helene Weber gelten als „Mütter des Grundgesetzes“.
- 1958: Mit dem Gleichberechtigungsgesetz bekommen Frauen mehr Rechte: Sie dürfen arbeiten – aber nur, wenn sie den Haushalt nicht vernachlässigen. Die Art, wie das Gesetz die Ehe definiert, wird später „Hausfrauen-Ehe“ genannt. Frauen dürfen nun außerdem auch ohne Erlaubnis des Mannes den Führerschein machen.
- 1961: Frauen können erstmals die Antibabypille kaufen. Ein wichtiger Schritt zum Selbstbestimmungsrecht der Frau: Sie darf selbst über ihren Körper entscheiden und darüber, ob sie schwanger werden will oder nicht. Für Jubelrufe der sexuellen Revolution war es allerdings zu früh: Verschrieben wird die Pille zunächst nur verheirateten Frauen, die bereits Kinder haben, oder solchen mit Regelschmerzen. Für Single-Frauen war Verhütung mit der Pille noch keine Selbstverständlichkeit.
- 1962: Die freie Entscheidung über die eigenen Finanzen wird 1962 möglich. Frauen dürfen fortan auch ohne Erlaubnis ihres Mannes ein Konto eröffnen.
- 1971: „Wir haben abgetrieben!“ Der Titel des Hamburger Magazins Stern löst eine hitzige Debatte um das Abtreibungsverbot aus. Deutschlandweit wenden sich Frauen gegen das Verbot, das damals noch per Strafgesetzbuch unter Strafe stand. Rechtlich gesehen ist Abtreibung bis heute verboten – allerdings unter Voraussetzungen wie einer ärztlichen Beratung und einem Abbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen ist sie allerdings straffrei.
- 1973: Die Reform des Strafgesetzbuches bringt dringend nötige Anpassungen zweiter bedeutender Straftatbestände: „Notzucht“ heißt jetzt offiziell Vergewaltigung, „unzüchtiges Verhalten“ wird fortan als „sexuelle Nötigung“ klar benannt.
- 1977: Die Siebziger bringen das Ende der „Hausfrauen-Ehe“ (siehe Eintrag von 1958) Man glaubt es kaum, aber eine Arbeitsstelle dürfen Frauen erst ab 1977 auch ohne Erlaubnis des Ehemanns antreten und halten. Bis dahin durfte der Gatte jederzeit die Stelle seine Frau kündigen, ohne dass sie dabei um ihre Meinung gefragt wurde. Frauen, die mit ihrem Ehemann gemeinsam ein Unternehmen führen, bekommen nun Gehalt.
- 1980: Männer und Frauen sollen für gleiche Arbeit den gleichen Lohn behalten. Das Gesetz zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen soll Frauen wirtschaftlich endlich gleich stellen – bis heute ist es eines der besten Beispiele, dass Papier geduldig ist: Lohnungleichheit existiert noch immer.
- 1992: Nachtarbeit wird ab Januar auch für Frauen möglich – bis dahin war Frauen „aus sittlichen und gesundheitlichen Gründen“ die Arbeit zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens verboten. Dass das Verbot kippte, verdanken wir einer Bäckerin, die vor das Karlsruher Bundesverfassungsgericht zog.
- 1994: Seit 1994 dürfen Frauen bei der Eheschließung ihren Mädchennamen behalten. Merkel behielt übrigens den Nachnamen aus ihrer ersten Ehe, ihr Mädchenname lautet Kasner.
- 1997: Nach langen Diskussionen und Kämpfen im Bundestag wird Vergewaltigung in der Ehe endlich unter Strafe gestellt.
- 2015: Die Frauenquote für DAX-Unternehmen legt fest, dass künftig 30 Prozent der Aufsichtsräte weiblich sein müssen – für Vorstände gibt es eine freiwillige Verpflichtung. Die meisten Unternehmen ignorieren letztere bis heute.
- 2016: „Nein heißt Nein“ – Mit der Reform des Sexualstrafrechts reicht seit 2016 die Missachtung des verbalen Protests für die Strafbarkeit eines Übergriffs. Nach der alten Regelung kam es darauf an, ob dem Opfer mit Gewalt gedroht oder während des Übergriffs bereits Gewalt angewendet wurde.
Würde Selbert noch leben, sie hätte wohl einiges dazu zu sagen, dass die Lohngleichheit in der deutschen Wirtschaft auch heute noch keine gelebte Realität ist. Mal ganz abgesehen von der Glasdecke, die Frauen bis heute häufig den Weg an die Spitze in Wirtschaft und Politik verwehrt. Aber der Blick auf die vergangenen 120 Jahre und neue selbstbewusste Fraueninitiativen lässt hoffen, dass wir beim Thema Gleichberechtigung mit Leidenschaft weiterkämpfen. Dazu gehört auch, dass wir nicht nur für gleiche Rechte für Frauen kämpfen, sondern auch queeren Menschen und andere marginalisierte Gruppen in ihrem Kampf für Gleichberechtigung unterstützen.